Einhundert Jahre James Baldwin: Der amerikanische Autor fasziniert uns heute wieder, als Dandy und Ästhet, als Aktivist und Denker. Aber auch etwas anderes war ihm wichtig: die Musik
Von Kai Sina
Aus der ZEIT Nr.33/2024 Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.33/2024
Wer die Dokumentation No Fear über den Pianisten Igor Levit gesehen hat, wird sich an diese Szene erinnern: Levit hört mit seinem Tonmeister die gerade aufgenommene, für Klavier arrangierte Bach-Kantate Nun komm, der Heiden Heiland. Irgendwann unterbricht der Musiker und ruft etwas auf seinem Handy auf, um zu erklären, von wem er, Levit, viel gelernt habe. Es ist eine Rede von James Baldwin. Levit schwärmt beim Hören von dessen "polyphonem Reden", das "wie Musik" sei. Und dann dirigiert er zu Baldwins stark rhythmisierten Sätzen.
Bach, die Kantate von 1714, der Starpianist Levit und James Baldwin – eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation. Aber sie ist stimmig, wie mehrere Bücher zeigen, die anlässlich des 100. Geburtstags des 1987 verstorbenen Schriftstellers neu oder wieder erscheinen. Baldwin und die Musik, Baldwin als Musiker – das erklingt in seinen Essays, den autobiografischen Aufzeichnungen, seinen Gesprächen und Interviews. Und es passt zu seinen großen Themen, vor allem dem Rassismus. Denn die Musik ist für den Schriftsteller, der seit den "Black Lives Matter"-Protesten in den vergangenen Jahren eine atemberaubende Renaissance erlebt hat, ein zentraler Austragungsort jener Konflikte, in denen sich die westlichen Gesellschaften verfangen haben. Musik ist zudem die entscheidende Inspirationsquelle für Baldwins literarische Sprache – immer sind die Grenzen zwischen mündlicher Rede, Essay und Prosa bei ihm fließend.
In Harlem in ärmlichen und auch ansonsten schwierigen familiären Verhältnissen geboren und aufgewachsen, schafft es James Baldwin 1963 als erster schwarzer Autor auf den Titel des Time Magazine. Er wird in den Sechzigerjahren zu einem Star der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Sein Essayband Notes of a Native Son und sein Roman Giovanni’s Room, in dem er, was zeitgenössisch kaum verkraftbar war, die Liebesgeschichte zweier weißer Männer erzählt, sind heute nicht nur historische Schlüsseltexte für alle Studierenden der Amerikanistik, sondern tatsächlich begeistert gelesene Literatur. Längst ist Baldwin zu einer Figur larger than life geworden, deren Sätze in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig sind und auf T-Shirts gedruckt werden: "Ican’t believe what you say, because I see what you do". Dazu die Fotografien von Baldwins unvergesslichem Gesicht, das gleichzeitig Leiden und Wut, Vitalität, Stolz und eine gewisse Noblesse ausdrückt. Er ist Dandy und Aktivist, Ästhet und Intellektueller in einem – gerade in dieser schillernden Vielfalt von Rollen und Identitäten ist diese ikonische Künstlerfigur so faszinierend.
Baldwins Anfänge als Autor liegen allerdings nicht allein in den USA, sondern auch in Europa: Er war 1948 nach Paris gegangen, um dem Rassismus und der hom*ophobie seiner Heimat zu entkommen. Erst zehn Jahre später sollte er, der zeitlebens ein "transatlantischer Pendler" blieb, wie er sich selbst nannte, in die Vereinigten Staaten zurückkehren.
In Europa wiederum ist neben der französischen Hauptstadt ein kleines Schweizer Bergdorf entscheidend für Baldwins Autorschaft. Ausgerechnet nach Leukerbad, ins Chalet eines Freundes und Geliebten, zieht er sich 1951 zurück, um seinen ersten Roman fertig zu schreiben. Er gibt ihm denn auch den Titel eines Gospelsongs: Go Tell It on the Mountain. In seinem Gepäck befinden sich neben seiner Schreibmaschine zwei Dinge: ein Plattenspieler und die Musik von Bessie Smith. In der weltfernen Abgeschiedenheit des Walliser Örtchens, in dem er einem naiven, unverhohlenen Rassismus ausgesetzt ist (eine Erfahrung, auf die er später in seinem berühmten Essay Stranger in the Village zurückkommen sollte), sind ihm die Aufnahmen der Bluessängerin ein transportables Zuhause.
Aber da ist noch mehr. In einem Interview mit dem legendären Radiomoderator Studs Terkel von 1961, das in dem Gesprächsband Ich weiß, wovon ich spreche nachzulesen ist, erklärt Baldwin, wie ihm Bessie Smith zu einer Aussöhnung mit seinem Schwarzsein verholfen habe: Denn lange habe er seine Herkunft verleugnet, die Welt seiner Kindheit und Jugend, weil er sich geschämt habe, den Stereotypen der weißen Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen, denen zufolge "wir alle Wassermelonen essen oder den ganzen Tag Blues singen". In Leukerbad, weit entfernt von Harlem, umgeben "von weißem Schnee und weißen Bergen und weißen Gesichtern", habe er dann "die Sprache der Schwarzen" für sein Schreiben erst einmal wiederherstellen müssen, und Bessie Smith habe ihm dafür die Instrumente in die Hand gegeben. "Bessie hatte den Beat", so erklärt es Baldwin in einem Satz, der mit seinen alliterierenden Lauten umsetzt, wovon er selbst spricht.