Er war der Prophet von „Black Lives Matter“, ein schwuler Dandy und erzählte von urmenschlichen Ängsten und Nöten: Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller James Baldwin geboren. Was sein Satz „Die Party des Westens ist vorbei“ bedeutet.
Anzeige
So ein Glück! So ein schöner Begleitumstand einer nicht in jeder Hinsicht positiven Zeitströmung. Aber hier hat die Rückbesinnung auf das Identitäre, haben „Black Lives Matter“ sowie die wortreichen Angriffe auf das Konzept der „white supremacy“ tatsächlich einmal etwas rundherum Erfreuliches hervorgebracht: die rauschhafte Renaissance, nicht zuletzt auch in den sozialen Netzwerken, die seit einigen Jahren dem amerikanischen Erzähler, Essayisten und Dramatiker James Baldwin widerfährt. Heute vor 100 Jahren wurde er in New York City, Stadtteil Harlem, geboren. 1987 starb er in seiner Wahlheimat St. Paul de Vence bei Nizza.
Schon in seinem letzten Lebensjahrzehnt, vor allem aber in den darauffolgenden Dezennien war es still geworden um die Pop-Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, den schwulen Dandy, den Autor von Gesellschaftsromanen, die erstmals in der Literatur Nordamerikas gleichermaßen hom*o- wie heterosexuelle Begegnungen mit einer nie dagewesenen Offenheit schilderten. Und die vor Seelenstriptease genausowenig zurückschreckten wie vor einer schonungslosen Problematisierung des amerikanischen Rassismus. Doch was sich in den Sechziger-, Siebzigerjahren mühelos mit dem radical chic verband, der unter Amerikas Intellektuellen herrschte, verlor zum Ende des vergangenen Jahrhunderts seinen Zauber und vor allem seinen Neuigkeitswert.
Selbst Fritz J. Raddatz, führender Literaturkritiker aus dem Geist dieser Strömung, der in seiner Zeit beim Rowohlt-Verlag mit James Baldwin eins seiner besten Pferde im Stall engagiert betreut hatte, war ausweislich seiner Tagebücher aus den 1990er-Jahren allmählich von seinem Freund „Jimmy“ abgerückt. Als er daran ging, seine Bibliothek mit Widmungsexemplaren berühmter Schriftsteller zu verkaufen, sagte er sich auch von Baldwins Büchern los, mutmaßend, er würde sie nie mehr zur Hand nehmen.
Wir wissen nicht, ob es dabei tatsächlich geblieben ist. Aber eines ist klar: Das Lesen oder Wiederlesen von Romanen wie „Gehe hin und verkünde es vom Berge“, „Giovannis Zimmer“ oder vor allem „Eine andere Welt“ gehört zu den mitreißendsten Lektüreerlebnissen, die sich denken lassen.
Anzeige
Baldwins Debüt schlug ein
Geradezu ergreifend ist beispielsweise gleich Baldwins Debüt „Gehe hin und verkünde es vom Berge“, das ihn 1953 mit einem Schlage berühmt machte. Leider wurde es in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow bei dtv mit dem denkbar abwegigen Titel „Von dieser Welt“ überschrieben. Es handelt sich hier um die religiöse Erweckungsgeschichte eines jungen Mannes, mit der James Baldwin eigene Erfahrungen verarbeitet und übrigens auch sehr eindringlich seinen Stiefvater porträtiert, der ein für die Zeit typischer schwarzer Laienprediger war – beides also gerade nicht „von dieser Welt“. In diesem Ambiente lernte Baldwin den hohen Ton; hier kommt sein Hang zum Pathos her, den er nie wieder ablegen sollte, obwohl er sein stilistisches Repertoire im Laufe der Jahre erheblich erweiterte.
Doch blieb er ein Autor für die großen Gefühle. Die Ängste und Nöte der Menschen aus dem (schwarzen) Prekariat, aber auch die Selbstzweifel und Sehnsüchte von Künstlern und Intellektuellen, all das Hoffen und Bangen, Scheitern und wieder auf die Beine Kommen, die unser Dasein strukturieren, wenn wir ehrlich sind, dieses ungeheuer einfühlsame, oft herzzerreißende Mitgefühl für „Jeden Mensch in seiner Nacht“, das alles macht die Texte Baldwins unverwechselbar und reich. Vielleicht am stärksten profitiert sein komplexester Roman „Eine andere Welt“ davon, der 1963 in den Vereinigten Staaten herauskam, 1965 bei uns.
Paris rettete ihm das Leben
In dieser Zeit, in der sich die Literatur in einem nicht immer unverkrampften Sinne intellektualisierte (in Deutschland sowieso, aber auch in den übrigen europäischen Ländern und erstaunlicherweise sogar bei den Amis), war Baldwin, ohne darum weniger intelligent zu schreiben, der Mann geblieben, der „mit dem Herzen sah“. Die Anleihe bei dem viel strapazierten Diktum Saint-Exupérys erfolgt hier nicht von ungefähr. Denn so sehr Baldwin auch ein Gewächs Nordamerikas ist, so eindeutig er als Schüler des schwarzen Schriftstellers Richard Wright gelten muss, von dem er sich, Aktion Vatermord, allerdings auf spektakuläre Weise früh lossagte, so untrennbar verbindet sich seine literarische Laufbahn doch auch mit Frankreich.
„Paris ist die Stadt, die mir das Leben gerettet hat“, lässt Baldwin in einer seiner Erzählungen den Ich-Erzähler sagen. Und der Satz gilt auch für den Autor selbst. 1948, 24 Jahre jung, kehrte James Baldwin den inneren und äußeren Verletzungen, die er in seiner Heimat erfahren hatte, den Rücken und begann in Paris ein neues Leben. Hier konnte er, von rassistischer Verfolgung vergleichsweise unbehelligt, seine hom*osexualität ausleben und seine künstlerische Karriere vorantreiben.
Lesen Sie auch
André Gide
Vergesst Proust! Lest Gide!
Um 1950 fungierte André Gide, der sich bereits in den Dreißigerjahren vom Sozialismus, diesem „Gott, der keiner war“, losgesagt hatte, als Lehrmeister junger Intellektueller in Frankreich. 1947 hatte er den Literaturnobelpreis erhalten. Unter dem Einfluss dieses großen liberalen Einzelkämpfers, dem er übrigens seinen ersten literarischen Essay widmete, stand auch James Baldwin. Und vielleicht ist es dieser gute Geist, der verhinderte, dass Baldwin, selbst in seinen aktivistischen Zeiten, nie auf die Sirenengesänge des Marxismus hereinfiel, die so vielen Autoren der Nachkriegszeit das Hirn vernebelten.
Unberührt vom revolutionären Diskurs blieb er allerdings nicht. Zwar lagert Baldwin die Befürwortung von Gewalt zur Lösung des Rassenkonflikts in Amerika in seinen Erzählwerken meist an Figuren aus, die wie die Jazzsängerin Ida in „Eine andere Welt“ oder „Black Christopher“ in „Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort“ (1968) nicht die Position des Autors widerspiegeln. Aber in seinen Essays geizt er zumindest nicht mit reichlich eindimensionalen Wahrheiten über „die Weißen“ oder „den Westen“.
„Die Party des Westens ist vorbei“
„Die Party des Westens ist vorbei, und die Sonne der Weißen ist untergegangen. Basta!“, verlautbart er barsch in seinem viel beachteten Memoir „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ von 1972. Es ist die Zeit, in der Baldwin die weißen Amerikaner, vor allem die der Südstaaten, als verweichlichte Mickerlinge erscheinen, über die er munter schwadroniert: „Langsam wollte mir scheinen, dass der Süden nur aus einem einzigen Grund keine durch und durch hom*osexuelle Gemeinschaft war, nämlich wegen der himmelschreienden Abwesenheit von Männern.“ Keine Frage, Baldwin hat gern und oft zurück diskriminiert. Vor allem, wenn es um die angebliche Unmännlichkeit der Weißen geht, lief er zur polemischen Hochform auf.
Und woran erkennt man echte Männlichkeit? In Baldwins Augen an großen Schwänzen und deren nimmermüder sexueller Betätigung, wie sie die Schwarzen vorweisen können. Aber die „schrumpeligen Gesichter“ der weißen Männer müsse man eben als „präzisen Hinweis darauf verstehen, was bei ihnen unter der Gürtellinie los war.“ Immerhin: Penisverlängerung bei Weißen zur Überwindung ihrer Vorurteile gegenüber Schwarzen empfiehlt Baldwin dann doch nicht. Aber seine Sexualmythologie treibt – übrigens auch in den Romanen und Erzählungen – aparte Blüten. Nur einem französischen Schwulen spricht Baldwin in „Eine andere Welt“ großzügig ein Membrum virile zu, das steil in die Höhe ragt „wie die Kathedrale von Chartres“. Tja, Franzose müsste man sein.
Lesen Sie auch
James Baldwin
Ein Amerikaner, der die Amerikaner hasste
Die ganze Wahrheit über James Baldwin ist auch, dass nicht nur seine Essays bisweilen blühenden Blödsinn beinhalten, sondern dass auch seine Erzählwerke im Laufe der Jahrzehnte an kompositorischer Stringenz verlieren. Besonders anschaulich ist das bei dem bereits erwähnten Künstlerroman „Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort“ der Fall, den dtv jetzt neu herausgebracht hat (600 Seiten: puh!). Packend sind hier vor allem die Szenen, die in der NewYorker Kindheit des schwarzen Protagonisten spielen.
Hier kommt noch einmal alles zur Geltung, was die Prosa von Baldwin so großartig macht: Das sichere Gefühl für einprägsame Situationen, die die Drangsal der Schwarzen jener Zeit heraufbeschwören, einprägsame Dialoge sowie die berührende Darstellung von Familie als Schicksalsgemeinschaft. Wie hier zwei Brüder solidarisch miteinander umgehen, gehört zum Anrührendsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat.
Was das nachlassende Niveau seiner literarischen Arbeiten bewirkte, wird von Baldwins Biografen unterschiedlich gedeutet, versichert uns René Aguigah in seiner etwas schülerhaft geratenen Etüde „James Baldwin. Der Zeuge“ (C.H. Beck). Hin- und hergerissen zwischen Literatur und Aktivismus, umtriebig und von unstetem Lebenswandel, stürzte er, der eine Weile so berühmt wie Martin Luther King oder Marlon Brando war, doch immer wieder ab in selbstzerstörerische Depressionen, Drogen und Alkohol. Aber dieser Autor hat Figuren genug geschaffen, die an ihren frühen Traumatisierungen zugrunde gehen. So wird man auch über ihn wohl sagen müssen: Er starb letztlich an gebrochenem Herzen. Also an jener Todesursache, die bei sensiblen Naturen ja doch hinter allen klinischen Erkrankungen (im Falle Baldwins Speiseröhrenkrebs) steckt.
James Baldwin: „Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort“ und „Kein Name bleibt ihm weit und breit“. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. dtv, 670 bzw. 272 Seiten, 28 bzw. 22 Euro.
René Aguigah: „James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt“. C.H. Beck, 233 Seiten, 24 Euro.